Wo Deutschland am durchschnittlichsten ist

Die Bürger in Haßloch sind die Versuchskaninchen der Nation. Hier wird über die Zukunft neuer Deoroller, Mineralwasser und Schokoriegel entschieden

Von Thomas Heuzeroth

Wäre da nicht der Holiday Park mit Europas größter Achterbahn, dieser Ort würde vollends in die Bedeutungslosigkeit rutschen. Fast stolz berichten die Einwohner dann noch, dass Haßloch das größte Dorf in Rheinland-Pfalz ist. Rund 20.000 Einwohner zeigt das Melderegister auf. In einer Befragung hätten sie sich bereits vor Jahren standhaft gewehrt, Stadt zu werden. Sonst ist eigentlich alles in diesem Dorf durchschnittlich: eine kleine Bahnstation, zweigeschossige Häuser, schmucklose Straßen.

So durchschnittlich, dass Haßloch zum Eldorado für die Marktforschung geworden ist. Denn dieses Dorf in der Pfalz ist ein Spiegelbild deutscher Verhältnisse. Markenhersteller von Apollinaris bis Wrigley's zollen den Einwohnern ihren Respekt. Direkt aus ihren Forschungsabteilungen legen sie Produkte in die Regale der Supermärkte, die der Rest der Republik noch nicht zu Gesicht bekommen hat. Die Haßlocher dürfen dann den Daumen heben oder senken - und über die Zukunft neuer Deoroller und Schokoriegel entscheiden.

Bettina Finco weiß, dass sie auserwählt wurde, weil sie den Durchschnitt repräsentiert. Die 39-jährige Rheinland-Pfälzerin lacht: "Ich habe kein Problem damit, Otto Normalverbraucherin zu sein." Eigentlich macht sie sich darüber keine Gedanken mehr. Wie selbstverständlich greift sie vor jedem Einkauf in die Schublade, nimmt eine weiße Plastikkarte heraus, auf der ein schwarzer Strichcode gedruckt ist, und steckt sie zusammen mit ihrem Portemonnaie in die Tasche. Sobald sie im Real-Supermarkt an die Kasse tritt, legt sie ihre Karte auf das Förderband und lässt sie von der Kassiererin über den Scanner ziehen. Der Computer registriert jedes einzelne Produkt, das Bettina Finco gekauft hat - zur Freude der Marktforscher.

Das Nürnberger Marktforschungsunternehmen GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) hat hier im Süden Deutschlands den wohl umfassendsten Testmarkt für den Lebensmitteleinzelhandel aufgebaut. Fast jeder dritte der knapp 10.000 Haushalte in Haßloch ist zum "gläsernen Konsumenten" geworden. Bettina Finco mit ihrem Mann und zwei Kindern ist einer von ihnen.

"Wir können den Herstellern verlässliche Daten über die Erfolgsaussichten ihrer neuen Produkte geben", sagt die GfK-Marktforscherin Elke Langguth. Tatsächlich lässt sich in Haßloch unter realen Bedingungen testen, wie sie sonst nirgendwo vorhanden sind. Festgehalten werden nicht Kaufabsichten wie bei üblichen Umfragen, sondern wirkliche Verkäufe mit Hilfe der an die teilnehmenden Haushalte verteilten GfK-Karten. Fast alle Supermärkte im Dorf registrieren die Einkäufe. Rund 90 Prozent des Umsatzes im Lebensmitteleinzelhandel werden erfasst - nur der Aldi-Markt spielt nicht mit.

Doch dieser riesige Feldversuch in der Gemeinde zwischen Rhein und Weinstraße kann noch mehr: Durch einen eigens in den Haushalten installierten Decoder empfangen die Testhaushalte Werbespots, die sonst nirgendwo gezeigt werden. Die Werbewirkungsforschung leckt sich die Finger nach diesen Möglichkeiten. Ob ein TV-Spot auch wirklich einen Kaufreiz ausübt, kann nur auf diese Weise zuverlässig festgestellt werden. "Wir können gezielt Werbefilme in die Unterbrecherwerbung der großen TV-Kanäle streuen", so Marktforscherin Langguth. Selbst die TV-Zeitschrift "Hörzu", die Tageszeitung "Rheinpfalz" und einige Anzeigenblätter sehen in Haßloch anders aus, die Markenhersteller lassen hier nach Belieben ihre Produkte bewerben und überprüfen so, ob die Ergebnisse die Werbebudgets rechtfertigen.

"Von alledem merken wir nichts", sagt Bettina Finco. Obwohl sie von den eigens für sie produzierten TV-Spots weiß. Auch die Testware in den Supermarktregalen ist nicht zu erkennen. Da höchstens 20 Produkte zugleich getestet werden, gehen sie im Sortiment von 40.000 Marken unter.

Tatsächlich ist die Marktforschung in Haßloch zum Alltag geworden. Nur die Aufkleber an den Supermarktkassen mit der Aufforderung, die GfK-Karte zu zeigen, erinnern daran. Das Dorf ist seit 1985 das Versuchskaninchen Deutschlands. Nicht zuletzt, weil hier die ersten TV-Kabel der Republik verlegt wurden - Voraussetzung für die Testwerbung.

"Meine Eltern gehören zur ersten Versuchsgeneration", berichtet Bettina Finco. Als sie dann ihren eigenen Haushalt gründete, war die weitere Testteilnahme für sie selbstverständlich. Im Bekanntenkreis werde darüber eigentlich nie geredet. Der Anreiz zur Teilnahme am Test wird bewusst gering gehalten. Die "Hörzu" kommt kostenfrei ins Haus, ein Teil der Fernsehkabelgebühr wird ersetzt. Manchmal gibt es Verlosungen mit kleineren Geld- und Sachpreisen.

"Haßloch ist für die Markenhersteller eine Generalprobe", sagt Marktforscherin Langguth. Unternehmen wie Coca-Cola, Langnese und Bayer wissen das zu schätzen. Fast 300 neue Produkte sind in diesem Dorf bereits getestet worden. Bis zu 300.000 Euro lassen sich die Hersteller diese bis zu einem Jahr langen Tests kosten. Haßloch kann Schlimmeres verhindern. Jährlich erlebt der Lebensmitteleinzelhandel 1.000 bis 1.500 Premieren. Doch nur jedes fünfte Produkt hat auch Erfolg. Flop-Rate: 80 Prozent.

Besonders erpicht sind die Hersteller auf die festgestellten Wiederverkaufsraten. Erst wenn die Neugier mit dem Erstkauf eines Waschmittels verstrichen ist, zeigt sich, ob der Kunde erneut zugreift. Solange halten die Marketing-Strategen den Atem an. Die GfK beobachtet zugleich auch die gesamte Produktlinie. Denn neue Produkte sind immer auch Kannibalen in Regalen der Supermärkte. Wer ein neues Rasierwasser kauft, verzichtet auf sein altes.

"Wir haben hier wirklich die Gelegenheit, unsere Neuentwicklungen in vivo zu testen", sagt Hans-Willi Schroiff, Chef-Marktforscher von Henkel. Doch auch er weiß, dass Haßloch zugleich ein gefährliches Pflaster ist. Wer wissen will, was die Konkurrenz plant, wirft einfach regelmäßig einen Blick in die Supermärkte. Somit hat das Dorf einen weiteren Rekord zu vermelden. Schroiff: "Kein anderer Ort in Deutschland wird von Außendienst-Mitarbeitern so häufig besucht wie Haßloch."